"Prognosen". Zukunftswissen und Expertise in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

"Prognosen". Zukunftswissen und Expertise in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

Organisatoren
Dr. Heinrich Hartmann (Frankreichzentrum der Freien Universität Berlin) und Prof. Dr. Jakob Vogel (Centre Marc Bloch Berlin/Universität zu Köln)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.02.2008 - 29.02.2008
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Von
Petra Overath, Centre Marc Bloch Berlin

Mit Karl Valentins apokryphem Zitat „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ eröffnete Jakob Vogel die Tagung und deutete damit sogleich ein strukturelles Merkmal von Prognosen an: Prognosen sind für zahlreiche gesellschaftliche Bereiche wie etwa Wirtschaft, Ökologie, Meteorologie zentral, bisweilen für bestimmte Arbeitsabläufe oder Planungen sogar notwendig, aber sie bergen immer auch erhebliche Unsicherheitsfaktoren. Dieser Ambivalenz entsprechend standen historische Kontexte sowie Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik von explizit wissenschaftlichen Prognosen im Mittelpunkt der Tagung. Heinrich Hartmann und Jakob Vogel verfolgten mit der Tagung das Ziel, Prognosen (d.h. das wissenschaftlich untermauerte Zukunftswissen) in sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven einzubetten und zu historisieren, wobei ein besonderes Augenmerk der Rolle von Experten sowie den „Ökonomien der Aufmerksamkeit“ galt. Dies ermöglichte über den bisherigen Forschungsstand hinaus zu gehen und eine Reihe von innovativen Fragen aufzuwerfen: Erstens wurden die Zukunftsvorstellungen und ihre Geschichte analysiert, zweitens die Zusammenhänge von Prognosen und der Konstruktion des wissenschaftlichen Feldes und drittens die Umsetzungsmodi von Prognosen in den Blick genommen.

Entsprechend gliederte sich die Tagung in drei Panels; wobei im ersten Panel „Bilder und Zukunftsvorstellungen als Hintergrund der Prognose“ vorgestellt wurden. ANNE SEITZ (Centre Marc Bloch Berlin) untersuchte in ihrem Beitrag „Zukunft schreiben“ das Verhältnis von wissenschaftlichen Prognosen und der prognostischen Literatur im frühen 20. Jahrhundert. Der Beitrag machte deutlich, dass sich in dieser Zeit keine scharfe Trennung zwischen wissenschaftlichen Prognosen und fiktionalem Zukunftswissen ausmachen lässt. Vielmehr wurden die literarischen Vorhersagen in Abhängigkeit zu damals gültigen wissenschaftlichen Methoden der Prognose konstruiert. Möglich wurde diese Verbindung hauptsächlich durch die reflexive Bezugnahme der Literaten auf ihre eigenen Werke. Auf diese Weise ergab sich eine starke Bindung zwischen Forschungskonjunkturen und fiktionaler Literatur, die sich hauptsächlich in der, wie Anne Seitz es nennt, „Doppelung der Sprecherinstanz“ von Autoren manifestierte. Exemplarisch untersuchte sie den prognostischen Roman „Das Automatenzeitalter“ des Chemie-Ingenieurs Ludwig Dexheimer (1930), der in seinem Werk den Versuch einer umfassenden Darstellung neuer Wissensfelder unternahm. Sein Roman sei nichtsdestoweniger ein Beispiel für die Popularisierung zeitgenössischer Forschung, die in eine literarische Zukunft verlegt werde.

Vergleichbar mit den Visionen einer idealen Welt in prognostischen Romanen lagen auch dem städtischen Zukunftswissen – so ANNETT STEINFÜHRER (Helmholtz Zentrum für Umweltforschung Leipzig) – lange Zeit literarische, architektonische und gesellschaftliche Utopien von der „guten Stadt“ zugrunde. Allerdings seien die utopischen Elemente mit dem Zerfall der sozialistischen Staaten in der Stadtforschung zunehmend in Verruf geraten. Dagegen stünden nun „städtische Bevölkerungsprognosen“ und „Szenarien“ im Zentrum der aktuellen Stadtforschung. Die städtischen Bevölkerungsprognosen stellten zumeist Trendfortschreibungen der gegenwärtigen demographischen Entwicklungen dar, die jedoch, so Annett Steinführer, jeweils nur ein Baustein von städtischen Zukunftsbildern sein könnten. Deshalb plädierte die Referentin mit Rainer Mackensen für eine interdisziplinäre Bevölkerungswissenschaft und den verstärkten Einsatz von Szenarien. Szenarien definierte Annett Steinführer als verbale, komplexe Bilder von städtischen Zukünften, die alternative Entwicklungen darzustellen und, bei gleichzeitiger Komplexitätsreduktion, ganz unterschiedliche Zukunftsvisionen zu entwickeln vermögen. Darüber hinaus lenkte Annett Steinführer die Aufmerksamkeit auf die zunehmend kürzer werdende Halbwertszeit städtischer Prognosen sowie auf die übliche Darstellung städtischer Zukünfte in den Medien. Dabei kritisierte sie, dass die Zukunft – etwa der „schrumpfenden Städte“ – oft als zwangsläufig und unausweichlich geschildert werde.

Der Beitrag von GABRIELE GRAMELSBERGER (Freie Universität Berlin) „Die Präzise elektronische Phantasie der Automatenhirne“ beschäftigte sich am Beispiel von Umwelt- und Klimaprognosen mit dem Anspruch der Wissenschaften, mithilfe von Computern die Zukunft vorhersagen zu können. Die Referentin zeigte, dass sich das Planungs- und Prognosedenken seit den 1950er-Jahren im Rahmen eines deterministischen Systemdenkens entwickelte, in dem die Zukunft als berechenbar gedacht wurde. Die 1960er Jahre markierten dann, nicht zuletzt durch den Einsatz von Computern, den Auftakt zu einer umfassenden Beschäftigung mit extrapolierbaren und berechenbaren Zukünften des Menschen. Mit Edmund Husserl spricht Gabriele Gramelsberger in diesem Zusammenhang von einer wissenschaftshistorischen Sinnverschiebung, einem universalen Kausalstil, der die Lebenswelt als etwas Berechenbares bestimme. Am Beispiel der Klimaforschung zeigte sie, dass mit Computern eine Vielzahl von Zielvariablen in die Prognosen einbezogen werden konnten. Dabei deutete sie die neuen dynamischen Simulationsmodelle der Computer als experimentelle Selbstreflexionstechnologien. Einerseits stellt die Menschheit selbst einen wesentlichen Klimafaktor dar, andererseits eröffne sich – durch die immer besseren Rechnungsleistungen – die Voraussicht ins Unendliche. Mit den Simulationsmodellen sei die Verwendung der komplexen symbolischen Form des Futur II einhergegangen, die eine vollendete Zukunft in die wissenschaftliche Forschung einführte. Eine Folge davon sei, dass die Menschen ihr Handeln immer auch an einer Vergangenheit in der Zukunft auszurichten hätten.

Einen Einblick in die Praxis von Wirtschafts- und Konjunkturprognosen erhielten die Tagungsteilnehmenden bei der abendlichen Podiumsdiskussion am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Auf dem hochkarätig besetzten Podium diskutierten CHRISTIAN DREGER (Leiter der Konjunkturabteilung des DIW), ALBERT CASPERS (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie), THOMAS FRICKE (Financial Times Deutschland) und MICHAEL RUCK (Universität Flensburg). Im Mittelpunkt standen dabei nicht nur Fragen der Instrumentalisierung der Prognose durch die Politik, sondern auch etwa die Wechselwirkungen zwischen Prognoseproduzenten und Öffentlichkeit oder die impliziten Narrative, an die auch Prognosen immer wieder anknüpfen.

Den Auftakt des zweiten Konferenztages bildete das Panel zu „Methoden der Prognose“. In ihrem Beitrag „'Zukunftswissen' ohne ausreichende empirische Basis“ arbeitete URSULA FERDINAND (Technische Universität Berlin) heraus, wie die Nettoreproduktionsrate (NRR) Ende des 19. Jahrhunderts „erfunden“ und wie sie Robert René Kuczynski in den 1930er Jahren verbreitete, etablierte und damit für demografische Prognosen ein innovatives Fundament schuf. Kuczynski machte in seinen Arbeiten auf den allgemeinen Trend zum Fruchtbarkeitsrückgang in den westlichen Ländern aufmerksam und argumentierte zugleich, dass zur sinnvollen Einschätzung von Reproduktionstrends allenthalben die notwendigen Daten fehlten. Besonders scharf fiel seine Kritik gegenüber seiner Exilheimat England und der dortigen amtlichen Statistik, dem „Registrar-General's Office“, aus. Sowohl den Umfang als auch die Modalitäten der Datenerhebung prangerte der Demograf bis zum Ende der 1930er Jahre immer wieder als unzureichend und strukturell problematisch an, nicht zuletzt, weil es an einem Fertilitätszensus in England mangelte, was seriöse wissenschaftliche Prognosen über Bevölkerungstrends nahezu unmöglich mache. Im Kontext von intensiven Entvölkerungsängsten vertrat das britische Parlament eine moderate, weniger dramatische Sicht der Bevölkerungstrends und legte in seinem „White Paper“ von 1938 im Vergleich zu Kuczynski eine insgesamt eher optimistische Sicht der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung vor. Als die englische Regierung 1944 die „Royal Commission on Population“ zur Untersuchung von aktuellen Bevölkerungstrends einsetzte, wertete Kuczynski das als wichtigen Erfolg für die Demografie in England und wiederholte sein Plädoyer für eine intensive Kooperation zwischen Wissenschaft und amtlicher Statistik.

STEFAN WILLER (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin) behandelte in seinem Beitrag Techniken der Prognose im Hinblick auf das Weltkulturerbe. In der Unesco-Weltkulturerbekonvention von 1972 sei, so Willer, die Aufgabe einer „nachhaltigen“ und „generationengerechten Kulturpolitik“ festgeschrieben, die eben auf die Bewahrung des Weltkulturerbes ausgerichtet ist. Vor diesem Hintergrund problematisierte Willer das moderne Konzept der Generation als Zeiteinheit, dem das Prinzip der „programmatischen Futurisierung“ und „statistischen Berechenbarkeit“ inhärent sei und es aus diesem Grund generell zu einer zentralen Größe prognostischen Denkens mache. Bemerkenswert sei die Tatsache, so Willer, dass die klassischen Generationentheorien in den 1920er-Jahren und damit in der Nachkriegsgeschichte entwickelt wurden. Konzipiert wurde die Generation nach dem „Kriterium der Fronterfahrung und der damit verbundenen Sterbequote“ (Honold) und damit sei das prognostische Potential des Generationenkonzepts, so Willer, untrennbar verbunden mit Destruktivität. Dies führte den Referenten zu der Analyse der Unesco-Programmatik des World Heritage, das sich nicht nur auf die Zukunft richte, sondern durch seine Imperative des Sicherstellens, Bewahrens und Weitergebens auch einen starken Vergangenheitsbezug in konservatorischer Absicht aufweise („konservatorische Futurisierung“). Dies habe zur Konsequenz, so Willer, dass das Konzept der Generation immer mit einer schon vollendeten Zukunft (Futur II) und damit einer self-fulfilling-prophecy verbunden ist, in der der Umgang kommender Generationen nicht nur prognostiziert und antizipiert, sondern mehr noch festgelegt werde.

EVA BARLÖSIUS (Leibniz-Universität Hannover) untersuchte Repräsentationen des demografischen Wandels, die im wissenschaftlichen Feld als anerkannt gelten. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen war die Überlegung, dass der derzeit in Deutschland viel diskutierte demografische Wandel zur Erklärung von sozial-gesellschaftlichen Phänomen herangezogen werde, ohne dass im einzelnen ausreichend überprüft wird, ob diese behaupteten Kausalitäten jeweils korrekt sind. Besonders deutlich lasse sich das an Bildern, etwa an Bevölkerungs- und Alterspyramiden sowie an Bildstatistiken zeigen. Barlösius analysierte die impliziten Deutungen, den „symbolischen Überschuss“, der weit verbreiteten und allseits bekannten Bilder. Sie arbeitete deren Normativität heraus und zeigte zum Beispiel, dass ein Abweichen der Bevölkerungsentwicklung von der Pyramidenform durch die Modi der grafischen Darstellung mit gesellschaftlichen Instabilitäten assoziiert und damit demografische Prozesse mit sozialen Schieflagen verknüpft würden. Darüber hinaus seien die Repräsentationen des demografischen Wandels dank ihrer „praktischen Evidenz“ (Bourdieu) in der Regel auch jenseits der wissenschaftlichen community leicht verständlich. Die Demografisierung des Gesellschaftlichen, so Barlösius, argumentiere daher mit „zwangsläufigen Abläufen, unabwendbaren Folgen, und verengt mit diesen Begründungen den Raum für soziale Aushandlungsprozesse.“ Ohne die Bedeutung des demografischen Wandels für unsere Gesellschaft schmälern zu wollen, plädierte Barlösius dafür, die prognostizierten Konflikte zwischen Alt und Jung, Qualifiziert und Unqualifiziert, Eltern und Kinderlosen eben nicht als zwangsläufig anzusehen, sondern als gestaltbare soziale Beziehungen zu begreifen.

MARTIN LENGWILER (Universität Basel) ging es um die Entwicklung wissenschaftlicher Prognosetechniken in den Sozialversicherungen des deutschsprachigen Raums, insbesondere der Schweiz, in der Zeit von etwa 1900 bis 1945. Im Bereich der Sozialversicherungen, etwa der Alters-, Kranken- oder Unfallversicherung, spielte die Berechnung zukünftiger Risikokonstellationen eine wichtige Rolle. Zugleich hingen diese Risiken aber von einer Reihe gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und biologischer Faktoren ab, die schwer oder nicht sicher ermittelbar waren. Lengwiler zeigte, wie sich wissenschaftliche Prognosemethoden von der Modellierung durch einfache Extrapolation zunehmend durch wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle der mathematischen Statistik differenzierten. Besonders intensiv beschäftigte er sich mit den Debatten um demografische, wirtschafts- und medizinalstatistische Techniken der Kalkulation. Dabei demonstrierte er am Beispiel der schweizerischen Unfallversicherung (Suva), dass sich die Berechnungen von Risiken, etwa von Invalidenrenten, maßgeblich auf Erfahrungen gründeten. Während die Suva in den 1920er Jahren von einer höheren Mortalität der Unfallinvaliden und damit von einer kürzeren Auszahlungsdauer der Renten ausging, stellten die Versicherungen später fest, dass sich die Lebenserwartung der Unfallbehinderten nicht von der allgemeinen unterschied und passten ihre Berechnungen entsprechend an. Einen Durchbruch in der versicherungsmathematischen Berechnung des Unfallrisikos bedeutete der Nachweis von Hans Ammeter 1948, dass die kollektive Risikotheorie grundsätzlich im Bereich der Sachversicherung und damit auch im Bereich der Unfallversicherung anwendbar sei. Zugleich, so betonte Lengwiler, blieb – nicht zuletzt bis heute – die probabilistische Revolution im Unfallversicherungsbereich strukturell begrenzt.

Im dritten Panel stand die Anwendung von Prognosen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und zu verschiedenen Zeiten im Mittelpunkt. HEINRICH HARTMANN (Freie Universität Berlin) demonstrierte, wie die Musterungsprozesse vor 1914 von Statistikern, Mediziner und Anthropologen genutzt wurden, um empirisches Material für Prognosen zu generieren. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden verschiedene wissenschaftliche Schriften, die pessimistische demografische Zukunftsszenarien über Deutschland auf eine statistisch-empirische Basis stellten. Diese speisten sich aus Datenerhebungen und Prognosen, die im Rahmen der Musterungsprozesse von Militärärzten erhoben worden waren. Darüber hinaus waren die Rekruten ein begehrtes Untersuchungsobjekt von Anthropologen in Europa. Im Jahr 1893 initiierte der Sozialanthropologe Otto Ammon die Vermessung von Rekruten in seiner Heimatregion Baden. Bei der praktischen Durchführung und Auswertung der Erhebungen zu Brust-, Körper- und Kopfgröße der Rekruten waren die Klassifikationsmerkmale dabei maßgeblich durch die Tauglichkeitskriterien des Militärs geprägt. Zugleich wirkten die aus solchen Untersuchungen entstehenden biologisch-anthropologischen Prognosen zur Gesamtbevölkerung, die meist Verfallserscheinungen voraussagten, auf die Wehrkraftdebatten zurück. Aus diesen Verschränkungen entstanden Spannungsfelder, die es den Militärärzten erschwerte, sich frei von politischen und wissenschaftlichen Interventionen zu halten. Den Militärärzten gelang es zum Beispiel nicht, politische Vorgaben zu Erhebungsdaten aus ihren Untersuchungen herauszuhalten. Die Rivalitäten zwischen den Berufs- und Wissenschaftsfeldern beeinflussten die wissenschaftlichen Kategorien, die in Debatten über anthropologische Klassifikationen und demografische Entwicklungen der Bevölkerung längerfristig wirksam blieben.

Dem praktischen Einsatz von Prognosen in ökonomisch-demografisch-ökologischen Handlungsfeldern widmete sich der Beitrag von ELKE SEEFRIED (Universität Augsburg) über das privatwirtschaftliche Forschungsinstitut Prognos AG mit Sitz in Basel und dessen politikberatende Zukunftsanalysen für die Bundesrepublik Deutschland in den 1960er- und 1970er-Jahren. Der Nationalökonom Edgar Salin gründete zusammen mit Teilen der List-Gesellschaft im Oktober 1959 die Prognos AG mit dem Ziel, Politik und Wirtschaft gleichermaßen durch Expertise zukunftsorientiert zu beraten. Methodisch war die Prognos AG in ihren Anfangsjahren durch eine Verbindung der Historischen Schule und der postkeynsianischen Nationalökonomie Kieler Prägung ausgerichtet. Spätestens seit 1965 und dem ersten optimistischen Deutschlandbericht, unter anderem über starke Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts, hatte sich die Prognos AG so weit etabliert, dass sie von Bundesbehörden den Auftrag erhielt, wissenschaftliche Studien zu zukünftigen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu erstellen. Sie stützte sich dabei auf iterative Systemprognosen mit zeitlich variablen Parametern, bzw. seit den 1970er-Jahren auf Intervallschritte.
Mit der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre und dem damit verbundenen drastisch verlangsamten Wirtschaftswachstum veränderte sich die thematische, aber auch forschungspragmatische Ausrichtung der Prognos AG. Nunmehr verlangte die Politik Expertisen für ökologische und energiepolitische Fragestellungen. Innerhalb der Prognos AG verließen die Mitarbeiter ihre fortschrittsoptimistischen Positionen zugunsten von wesentlich pessimistischeren und pragmatischen Positionen. Die wissenschaftliche Prognose und deren Aussagefähigkeit wurde teilweise sogar grundsätzlich in Zweifel gezogen und das Bewusstsein für Kontingenzen betont.

Im dritten Beitrag des Panels analysierte ANETTE SCHLIMM (Universität Oldenburg) prognostische Praktiken der Verkehrsplanung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stand dabei der Verkehrswissenschaftler Anton Napp-Zinn, der über mehrere politische Zäsuren hinweg von den 1920er bis in die 1960er Jahre hinein als verkehrswissenschaftlicher Experte in Deutschland tätig war. Seit Gründung der Bundesrepublik zählte er zu den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesverkehrsministerium und brachte sich, so seine Selbstsicht, als objektivistisch-technischer Experte politikberatend ein. Dies tat er vor dem Hintergrund einer spezifischen Konzeption der Verkehrswirtschaft, die er als „eigenlogischen Bereich der Volkswirtschaft“ definierte und zugleich in Kontexte der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen sowie der technischen Innovationen einordnete. Schlimm analysierte die verschiedenen Zeitdimensionen der Verkehrswissenschaft im Sinne Napp-Zinns. Dieser entwarf von der Vergangenheit ein wirtschaftlich dynamisches Bild, das sich etwa durch die ansteigende Nachfrage nach Transportmöglichkeiten auszeichnete. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ordnete er dagegen als statische Phase ein. Auf der Ebene der technischen Innovationen beobachtete er nach 1945 – etwa verbunden mit der Automobilisierung – höchst dynamische Prozesse, die ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht hätten. Für die Zukunft prognostizierte Napp-Zinn aufgrund der asynchronen Entwicklungen von stagnierender Gesamtwirtschaft und dynamischen technischen Innovationen eine „Verkehrskrise“, die gar in eine Katastrophe münden könne. Daraus leitete er die zwingende Notwendigkeit ab, politisch zu handeln und eine „schöne neue Ordnung“ herzustellen, die auf der Idee der Gemeinschaft basiere und den Individualismus im Verkehrswesen eingrenze.

In einem abschließenden Kommentar griffen PAUL-ANDRE ROSENTAL (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales/Institut National des Etudes Démographiques, Paris) und JAKOB VOGEL (Centre Marc Bloch Berlin) nochmals zentrale Punkte der Tagung auf und eröffneten davon ausgehend weiterführende Perspektiven. Rosental vertrat die These, dass jede Prognose eines sozialen Phänomens dazu führe, dass sich das Phänomen selbst entscheidend verändere. Aus seiner Sicht müsse man bei einer Untersuchung von Prognosen zukünftig stärker als bisher deren innerepistemische Konstruktion untersuchen. Interessant sei auch die Frage, warum Prognosen derart erfolgreich sind, wo doch die Praktiker einräumten, dass sie Modelle und nicht die Wahrheit produzierten. Rosental nahm an, dass die „normalen Leute“ Positivisten seien und Prognosen daher gerne als Wahrheiten verstünden. Allgemein ordnete er Prognostiker als „Unternehmer der Krise“ ein, die mit ihren Vorhersagen immer wieder professionelle Nischen schließen könnten. Aus dem Kommentar von Regula Argast (Universität Zürich) griff er den Gedanken auf, dass Prognostiker immer auch Erzähler sind. Jakob Vogel machte nochmals auf die Spannung aufmerksam, die Prognosen strukturell aufweisen, indem sie einerseits auf Erfahrung und Intuition, anderseits auf naturwissenschaftlich-rationalen Modellen beruhten. Längerfristig sei es wünschenswert, so Vogel, die Verflechtung zwischen den Medien sowie verschiedener Pressetypen und den Ökonomien der Aufmerksamkeit für Prognosen genauer zu untersuchen. Er resümierte, dass sich die sozialen und kulturhistorischen Herangehensweisen der Tagung für das Untersuchungsobjekt Prognose als weiterführend erwiesen habe. Zukünftig gelte es zudem Methodendiskussionen genauer in den Blick zu nehmen, zeitgebundene Wahrnehmungshorizonte ernst zu nehmen, die das Denken über die Zukunft beeinflussten, sowie transnationale Dimensionen in die Untersuchungen einzubeziehen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass sich die breite interdisziplinäre Perspektive der Tagung als insgesamt weiterführend erwiesen hat. Allerdings wäre langfristig ein vertiefter Dialog mit Praktikerinnen oder Produzentinnen der Prognose wünschenswert, die dann auch direkt in wissensgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Reflexionen mit einbezogen werden sollten.

Damit könnte ein der zentraler Verdienst der Tagung, nämlich die Komplexität von Prognosen zu demonstrieren, weitergeführt werden: In dem Moment, in dem Prognosen formuliert werden, entfalten sie – je nach historischem Kontext – eine enorme Wirkmächtigkeit, und zwar durch die mit ihnen verbundenen „Erzählungen“. Dabei verändern sie sich und gegebenenfalls auch gesellschaftliche und politische Situationen oder Handlungsräume. In gemeinsamen Diskussionen mit Praktikerinnen der Prognose könnte die Wissensgeschichte dabei wichtige Elemente für einen „gesellschaftlichen Dialog“ liefern.

Konferenzübersicht:

1. Panel – Bilder und Zukunftsvorstellungen als Hintergrund der Prognose
Anne Seitz (Centre Marc Bloch Berlin): Zukunft schreiben. Bevölkerungswissen zwischen Fiktion und Pathologie im frühen 20. Jahrhundert
Annett Steinführer (Helmholtz Zentrum für Umweltforschung Leipzig): Utopie war gestern. Städtische Zukünfte in Vergangenheit und Gegenwart
Gabriele Gramelsberger (Freie Universität Berlin): ‚Die präzise elektronische Phantasie der Automatenhirne' – Die rationale Prognostik numerischer Simulationen
Kommentar: Regula Argast (Universität Zürich)
Podiumsdiskussion
in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
Teilnehmende: Michael Ruck (Universität Flensburg), Christian Dreger (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin),
Thomas Fricke (Financial Times Deutschland), Albrecht Caspers (Bundeswirtschaftsministerium),
Moderation: Jakob Vogel

2. Panel – Methoden der Prognose
Ursula Ferdinand (Technische Universität Berlin): „Zukunftswissen“ ohne ausreichende empirische Basis. Bevölkerungsprognosen bei Robert René Kuczynski
Stefan Willer (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin): Weltkulturprognostik: Zukünftige Generationen und ihr kulturelles Erbe
Eva Barlösius (Universität Hannover): Bilder des demographischen Wandels
Martin Lengwiler (Universität Basel): Signifikanzen der Sicherheit: Intendierte und nicht-intendierte Erkenntnisse der sozialstaatlichen Prognostik (1918-1970)
Kommentar: Arnaud Lechevalier (Centre Marc Bloch Berlin)

3. Panel – Prognosewissen im Dialog mit der Anwendung
Heinrich Hartmann (Freie Universität Berlin): Normieren und Errechnen. Zur Korrelation von Bevölkerungsprognosen und Musterung vor 1914
Elke Seefried (Universität Augsburg): Die Prognos AG und ihre Zukunftsanalysen für die Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren
Annette Schlimm (Universität Oldenburg): Zukunftswissen durch Gegenwartsbestimmung. Prognostische Praktiken der Verkehrsplanung in der Ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Kommentar: Alexander Nützenadel (Universität Frankfurt/O)

Schlusskommentar: Paul André Rosental (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales/Institut National des Etudes Démographiques, Paris) und Jakob Vogel (CMB Berlin)


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